GEDANKEN LESEN(auf DEUTSCH)
“Die Gedanken sind frei”, klang es aus dem Zug zum Hambacher Schloss vor 175 Jahren. Doch heute lesen Hirnforscher in den Gedanken – zurzeit noch nur mit Unterstützung ihrer Probanden. Schon bald könnte “das gläserne Gehirn” eine Fülle ethischer Fragen aufwerfen.

Schichtaufnahmen eines Gehirns, die mit einem Magnetresonanztomographen aufgenommen worden ist

“Das Gedankenlesen ist ein explosives Thema”, sagt John-Dylan Haynes. In seinem Labor am Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin wird das Gehirn zum gläsernen Neuronenhaufen: Ob ein Mensch gerade an ein Haus oder einen Freund denkt, ob er gedanklich einen Stuhl, ein Shampoo oder eine Schere vor dem inneren Auge hat, das braucht Haynes nicht zu raten. Er verlässt sich auf seine Geräte: einen leistungsfähigen PC und einen Magnetresonanztomografen (MRT), der das Feuern der Nervenzellen im Gehirn registriert.
Damit das Hirn für die Forscher zum offenen Buch wird, müssen sie ihre Software zur Auswertung der MRT-Bilder jedoch erst trainieren. Das Gehirn jedes Menschen funktioniert unterschiedlich, die Neuronen sind anders verknüpft. Die Software muss stets neu lernen, wie das Muster für Wahrheit im Kopf oder der Gedanke an eine Tasse Kaffee aussieht. Erst danach kann sie bei dieser Person zum Gedankenlesen verwendet werden.
Der charakteristische Abdruck jedes Gedankens wird auf der MRT-Aufnahme abgelichtet. Aktive Regionen im Gehirn erscheinen hell, passive Bereiche dunkel. So entsteht ein Foto, aus dem Haynes liest, womit sich die Denkzentrale beschäftigt. “Das Programm zur Gedankenerkennung ähnelt der Software zur Identifikation von Fingerabdrücken”, sagt Haynes. Auch verborgene Gedanken holt der Forscher damit ans Licht: Setzte er Probanden vor zwei rotierende Scheiben, wovon eine blau-schwarz, die andere rot-schwarz gestreift ist, so sehen diese aufgrund einer optischen Täuschung entweder eine blaue oder eine rote Scheibe. Aus dem Hirnscan ließ sich zuverlässig vorhersagen, welche der beiden Farben die Testpersonen wahrnahmen.
Doch das ist längst nicht alles: Die MRT-Aufnahme offenbart sogar einige Sekunden bevor sich ein Mensch entscheidet, was dieser vorhat. Und das, obwohl die Person glaubt, ihre Wahl noch nicht getroffen zu haben. Das MRT sieht bereits zuvor, was das Individuum gleich wollen wird.
Dies demonstriert Haynes an einem weiteren Experiment: Testpersonen sollten zwei Zahlen subtrahieren oder addieren. Bevor sie die Zahlen zu Gesicht bekamen, mussten sie sich für eine der beiden Rechenoperationen entscheiden und mitteilen, wenn sie sich festgelegt hatten. Dann wurden ihnen die zwei Zahlen präsentiert, und sie durften das Ergebnis berechnen. Die Hirnaufzeichnungen verrieten lange vor der Äußerung der Probanden, ob diese Addition oder Subtraktion wählen würden. “Das Gehirn bereitet die Entscheidung schon vor, bevor diese ins Bewusstsein gelangt. Das können wir mit dem MRT erfassen”, erklärt Haynes.
Daniel Langleben von der University of Pennsylvania in Philadelphia versuchte bei 60 Menschen, Lüge von Wahrheit zu trennen. Diese hatten zwei Spielkarten vor sich und sollten bei einer ehrlich sein und bei der anderen schummeln. In immerhin 77 Prozent der Fälle entlarvte der Forscher die Lügner richtig. “Wir sind damit besser als herkömmliche Lügendetektoren.”
Technische Möglichkeiten sind die eine Seite. Praktische Konsequenzen die andere: Langleben erhält inzwischen jedes Jahr Dutzende Briefe von Gefängnisinsassen, die ihre Unschuld in seinem Labor beweisen lassen wollen. Bislang lehnt er ab. Er fürchtet die moralische Zwickmühle. Nur ein Reporter der “Washington Post” durfte sich bei ihm in die MRT-Röhre legen. Der Journalist gab unter anderem vor, ein Buch geschrieben zu haben und beim Militär gewesen zu sein. Beides gelogen. Langleben konnte den Hochstapler jedoch nicht zuverlässig überführen. Nur bei einzelnen Äußerungen glückten ihm Treffer. Um die Lügendetektion zu verbessern, fordert der Forscher nun klinische Studien.
Auch der Neuroforscher Haynes will seine Gedankenlesetechnik voranbringen: “Wir brauchen ein Wörterbuch der Gedanken, in dem jedem Aktivierungsmuster im Gehirn der jeweilige Gedanke zugeordnet ist”, so seine Vision.
Haynes beamt ein Bild der mehrbändigen Ausgabe des “Oxford-Wörterbuchs” an die Wand. Den eigentlichen Titel hat er durch “Dictionary of Thoughts” ersetzt – “Wörterbuch der Gedanken”. Allerdings wäre diese Ausgabe weder universell noch besonders langlebig: Da jedes Hirn einzigartig ist, bräuchte jeder sein eigenes Lexikon. Und da sich die Nervenzellen ständig neu verknüpfen, müsste das Buch alle paar Wochen überarbeitet werden. “Eine geheime Liebesaffäre können wir ohnehin nicht aufdecken”, scherzt Haynes. Eine Gedankenlesemaschine sei also noch Zukunftsmusik, solange das Gedankenwörterbuch nicht gefüllt sei und tragbare MRT-Geräte nicht zu haben sind. Dass US-Firmen bereits MRT-Lügendetektoren verkaufen, quittiert er mit dem Urteil: “Das ist unseriös. Aber es ist der richtige Weg, wenn man Lügendetektion machen will.”
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